Aus unserem Tagebuch Sterbebegleitung


Eine Hand, die meine umfasst; ein Arm, der mich hält; ein Wort, das die Nähe erahnt; eine Stimme, die die Brücke baut; ein Satz, der ein Ufer aufzeigt; eine Zeit, die Perspektive eröffnet …
Fanny Dethloff


Es sollte nicht mehr lange dauern, meinte der Arzt. Die Familie rief den Hospizverein an. Die Begleiterin stellte sich vor. Doch die Zeit verstrich. Immer wieder sah es so aus, als würde sie bald sterben – und dann lebte sie noch einmal richtig auf. Sie erzählte noch ihre gesamte Geschichte. Und dann – nach einem Jahr – war es soweit.


Innerhalb von nur drei Monaten von der Diagnose bis zum Tod. Viel zu schnell überrollte ihn die Krankheit. Die Familie war oft nicht in der Lage, es mit auszuhalten und es war gut, dass mehrere Begleiterinnen da waren, um ihnen beizustehen. Nach drei Monaten verstarb er im Hospiz. Noch eine Woche hatte er dort gelebt und hatte sich von allen verabschieden können. Ein gutes Ende – trotz allem. Ein wichtiger Trost für seine Familie.


Der junge Mann hatte ungewöhnlich gelebt. Die Wohnung sah entsprechend aus.

Die Hospizbegleiterin war nicht sicher, ob sie akzeptiert werden würde. Sie war viel älter als er. Ob es klappen würde? Vorsichtig näherten sich beide im Gespräch an. Irgendwann wurde er deutlich „Sch… sei es“, meint er, „das mit der Krankheit“. Sie nickte. „Einfach ungerecht und blöd!“ „Ja, stimmt“, meinte sie nur. Ob sie ihm nicht etwas Kluges, Weises, Mutmachendes sagen wolle … „Glauben Sie, dass sie das hören wollen?“ „Nein“, grinste er, „Aber ich hätte einen Grund mich dann über Sie aufzuregen!“ Beide mussten lächeln. Irgendwann meinte sie, sie müsse jetzt los, ihr Hund würde im Auto warten. „Ach bitte, bringen sie den doch mit rein“, sagte er.

Seither waren sie immer zu dritt: Der Hund, er und sie. Und über den Hund hatten sie einen guten Draht. „Der redet jedenfalls kein Blech …“ Als er starb, hatte sie seine Lebensgeschichte gehört, sie wusste viel von ihm.


Auf dem kleinen Hausaltar im „Haus am Kirchsee“ brennt eine Kerze – das Gedenkbuch für Verstorbene ist aufgeschlagen. – Ich komme herein – einen Augenblick stockt mir der Atem. Ich weiß sofort: Dieses Licht ist für meine Begleitete angezündet, die ich noch vor zwei Tagen besucht habe.

Ich lese den Spruch, der dort zum Gedenken der 79-jährigen eingetragen ist:

„Dein Leben war ein großes Sorgen,
war Arbeit, Liebe und Versteh’n,
war wie ein heller Sommermorgen
und dann ein stilles Von-uns-geh’n.“

Diese Begleitung wurde mir im Juli vorigen Jahres anvertraut. Man sagte mir, es werde wohl eine sehr kurzfristige Sterbebegleitung sein. Angehörige, Arzt und Pflegepersonal waren sich einig, das Leben dieser schwerkranken Frau, die seit vielen Jahren ohne Sauerstoffgerät nicht mehr atmen kann, würde bald zu Ende gehen.

Umso erstaunter bin ich, dass sie mir bei meinem ersten Besuch sofort lebhaft die Hand entgegenstreckt. Über ihren desolaten körperlichen Zustand bin ich zunächst so erschrocken, dass ich kaum verstehe, was sie mir gleich alles mitteilen will. Und dieses gleich heute beginnende Erzählen fröhlicher und trauriger Ereignisse ihres Lebens zieht sich durch die gesamte Zeit der Begleitung.

Sie spricht von den Schwierigkeiten, die ihre Familie während der Kriegs- und Nachkriegszeit durchgemacht hat, von der frühen Trennung von Mutter und Vater, aber auch von den glücklichen Jahren auf dem kleinen Bauernhof ihrer Großmutter, die sie für viele Jahre in ihre Obhut nahm und sie ins Leben hinein geleitete.

Schon nach wenigen Besuchen spüre ich aufkommendes Vertrauen und vernehme das Bedürfnis nach Sprechen- und Gehört-werden-wollen. Durch das jahrelange Alleinsein im Haus mit der Bettlägerigkeit ist ein großes Einsamkeitsgefühl gewachsen.

In der neuen Umgebung im Heim fühlt sie sich wohl, wird pflegerisch gut versorgt, von der Familie besucht und von mir jetzt liebevoll begleitet. Ich bin einfach da, höre ihre humorvollen Berichte, worüber wir dann beide herzlich lachen und bei denen die Kranke zusehends auflebt. Dann wieder an manchen Tagen treffe ich sie traurig und weinend an, versuche zu trösten, nehme sie in die Arme, bis sie ruhig geworden ist.

Wieder und wieder kreisen ihre Gedanken um die Familien ihrer beiden Söhne, besonders sorgt sie sich um das Wohlergehen der bereits erwachsenen Enkelkinder, die sie so sehr liebt. „Sie war unser Zentrum“, erzählt mir eine Enkelin. „Wir konnten immer mit unseren Problemen zu ihr kommen. Sie hat uns beraten, Streitigkeiten geschlichtet und wieder neu vereint.“ Auch die Söhne bestätigen, dass sie stets hingebungsvoll für ihre Familie gesorgt hat.

Zwischen diesen gesprächsintensiven Besuchen erlebe ich Stunden, in denen die Schwerkranke an großer Atemnot leidet und Ängste aufkommen vor dem bevorstehenden Ende. Einige Male werden die Angehörigen benachrichtigt, weil der Zustand sehr kritisch ist.

Und dann für uns alle das große Staunen über ein erneutes Aufleben, neuen Lebensmut, Lust auf Späßchen mit dem Pflegepersonal. Jedoch in den dunklen Wintertagen neigt sie zu depressiven Stimmungen, grübelt nach über Fehler in ihrem Leben, über Versäumnisse, setzt sich mit Schuldgefühlen auseinander. Ich bin bei ihr, höre zu, halte ihre Hände …

Ein anderes Mal erinnert sie sich auf mein vorsichtiges Nachfragen an ihre glücklichen Ehejahre, die Freude am Blühen der Blumen, dem Gedeihen von Früchten und Gemüse in ihrem Schrebergarten, die vielen fröhlichen Stunden Spiel und Spaß mit den Enkelkindern. Inzwischen kenne ich das gesamte Panorama ihres Lebens.

Eines Tages, nach langer Stille im Gespräch, sagt sie plötzlich: „Ja, ich denke, ich habe auch viel Gutes in meinem Leben getan“. Erleichtert atme ich auf. „Ganz bestimmt haben Sie das!“ erwidere ich. Und dann sagte sie ganz leise: „Vieles, was ich Ihnen erzählte, das habe ich noch niemandem erzählt.“ – „Es bleibt alles bei mir, ich danke Ihnen sehr dafür“, mehr sage ich in diesem Augenblick nicht.

Ich spüre, die Zeit ist gekommen: Die Sterbende beginnt zu akzeptieren, los zu lassen, sich selbst zu vergeben.

An weiteren Besuchstagen beobachte ich, dass das Interesse am Lesen und Fernsehen allmählich abnimmt. Die Soduko-Hefte sind weit weggelegt, ebenso das Strickzeug, die Buntstifte und die Mappe mit den Mandalas, die ich ihr mitgebracht hatte. Der Appetit lässt nach. Resignation und ständige Müdigkeit, dazu noch ein Sturz von der Bettkante führen dazu, dass meine liebe Begleitete beginnt, konkret an ihr Sterben zu denken. „Es hat doch alles keinen Sinn mehr. Es wird nicht besser mit mir“, sagt sie. Ein Gedicht aus unserer Hospizzeitung: „Fürchte dich nicht vor der Reise, die mit dem Tod beginnt …“ gibt ihr Trost und Zuversicht. “Ich habe keine Angst – „Der da oben“ wird schon wissen, was er mit mir vorhat“.

Sie hat den Wunsch, an einem warmen Sommertag noch einmal im Rollstuhl in die Sonne gefahren zu werden. Die Pflegerinnen erfüllen ihn gern. Die Sehnsucht, ihre Wohnung noch einmal wiedersehen zu dürfen oder mit dem Sohn eine Autofahrt an den Plöner See zu machen, kann wegen ihres geschwächten Körpers nicht gestillt werden.

Von einem zweiten Sturz erholt sich die Kranke nicht wieder. Bei meinem letzten Besuch am 11. September schaut sie mich lange an und sagt kaum hörbar: „Ich bin so müde – ich möchte einfach hinüberdösen“ … und schlummert ein. Schweigend drücke ich sanft ihre Hand, bleibe noch eine Weile und küsse sie zum Abschied auf die Wange. „Träumen Sie schön.“ …

In diesen 14 Monaten meiner Begleitung sind wir beide uns sehr nahe gekommen, ein kostbares Geschenk. Ich bin zutiefst dankbar dafür, dass ich diese liebenswerte Frau auf ihrer letzten Lebensstrecke begleiten durfte.